Sonntag, 11. November 2007
Die bleichen Berge
Wir waren jetzt in Bozen. Unser Hotel war alt und gut in Schuss. Die Zimmer waren neu und ziemlich gemütlich. Ich kaufte mir einen Hut bei Rizzolli, der ältesten Hutmacherei in der Stadt. Den Hut wollte ich zukünftig beim Fischen tragen.
Seit heute regnete es. Wir spazierten durch die Altstadt und verzogen uns in eine Weinklause, wo wir uns an einen Tisch setzten, an dem schon Einheimische saßen. Der Wirt war ein Italiener; etwas mürrisch, aber den Wein, den er uns brachte, konnte man sich gefallen lassen. Es war ein Lagrein und seine Farbe war Dunkelrot und er schmeckte ein bisschen wie reife, schwarze Süßkirschen. Wir aßen verschiedene mit Olivenöl beträufelte Brote dazu; warmes, krosses, duftendes Brot. Scheiben von Tomaten, gehobelter Parmesan, frisches Basilikum, salzige Sardellen. Die Brote pfefferten wir grob aus der Mühle, bis uns der Schwarzpfeffer scharf in Nase stieg.
Die Stunden nach der Mahlzeit verbrachten wir auf unserem Zimmer. Wir machten es uns gemütlich und dann schliefen wir ein.
Als wir zum Abendessen aufbrachen, regnete es nicht mehr. Aber da die Wolken den Himmel ganz bedeckten war es grau und trist in den Straßen. Auf dem nassen Pflaster spiegelte sich das Licht aus den Häusern. Und weil die Läden geschlossen waren, waren auch keine Leute unterwegs. Es war die Zeit zwischen dem Nachmittag und dem Abend. In einer Auslage auf der anderen Seite der Straße sahen wir Licht. Angezogen von dem warmen Licht gingen wir hinüber. Bücher! Wir fragten den Mann, der uns begrüßte, ob es auch deutsche Bücher gäbe. Wir sahen sein freundliches Nicken und waren froh über unsere Entdeckung: Ein Laden voller Bücher an einem grauen Bozner Spätnachmittag. Eine ganze Weile stöberten wir herum. Es gab einfache braune Holzregale und ein rotes Sofa. Die Bücher waren nach Ländern sortiert und die Regale mit kleinen, weißen handgeschriebenen Zetteln markiert: spanische Autoren in spanischer Sprache, italienische in italienischer, französische in französischer, polnische in polnischer, deutsche in deutscher und so weiter. Natürlich gab es auch Übersetzungen. Ich kaufte ein Buch von Francisco Coloane, Feuerland. Außerdem ein Literaturmagazin. Das Magazin versprach eine Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder zu sein. Der Laden war wirklich gut sortiert und wir blieben bestimmt an die zwei Stunden.
Als wir nach draußen sahen, war es fast dunkel und wir verließen die
Bücher. Bis zu dem Lokal, das wir aufsuchen wollten, war es nur ein
kurzes Stück die nasse Straße rauf und es roch noch immer nach Regen.
Durch die beleuchteten Fenster konnten wir nach drinnen sehen. Drinnen
in der Gaststube saßen ein paar Leute bei Lampenschein und als wir
eintraten kam der Wirt auf uns zu, ein Grauhaariger mit ebenso grauem
Oberlippenbart. Er streckte seine Hand aus und wies uns einen großen
Tisch an. Der Tisch sei reserviert, aber die Gäste würden erst später
kommen. Wir bestellten eine Flasche Lagrein dunkel und ein großes
Mineralwasser dazu. Wir entschieden uns für Leberknödelsuppe. Die Suppe
kam, schmeckte kräftig und heizte ein. Der Hauptgang – Bratkartoffel
mit Spiegelei – machte uns richtig satt. Von dem Salat, den es auch
gab, aßen wir nicht mehr alles auf.
Auf dem Rückweg: wieder Regen. Also kehrten wir noch irgendwo auf einen
Drink ein: Islay-Whisky, 12 Jahre alt, zwei Finger breit im Glas. Von
unserem Platz aus sahen wir den Regen in langen Fäden fallen. Später
wollten wir schnell ins Hotel kommen. Wir drückten uns an den
Hauswänden entlang, an den Bars vorbei, die ausgestorben waren, kamen
durch die Straße, wo sonst die schwarzen Nutten standen und sahen im
Vorübergehen in die öffentlichen Grünanlagen, die jetzt gar nichts mehr
Einladendes hatten. Über die Zebrastreifen traten wir nur auf die
weißen Streifen und sahen bestimmt ziemlich betrunken aus.
Vor unserem Hotel standen ein paar Italiener und rauchten.
Wir beeilten uns, in den vierten Stock zu kommen. Der Aufzug war alt
und das Holz aus dem er gebaut war knarrte beim Fahren. In der Enge des
Lifts roch es nach altem Teppich und beim Hochfahren wackelte er hin
und her wie
ein lockerer Zahn. Im Zimmer öffneten wir das Fenster. Unser Zimmer lag
ruhig zum Garten und nach hinten raus. Von unserem Bett aus sahen wir
tagsüber auf die Weinberge. Jetzt sahen wir nur ein paar verstreute
Lichter und die Umrisse einiger Häuser und die Lichter machten die
Nacht noch schwärzer. Manchmal hörten wir einen Wagen oder ein Motorrad
irgendwo die Bergstraße herauf oder herunter fahren oder vor einer
Kurve hupen. Man hupt hier vor Kurven. Entfernt rumpelte der Fahrstuhl.
Am dritten Morgen packten wir die Koffer. Das Taxi fuhr vor. Unser
Fahrer war eine Fahrerin. Sie hieße Torggler. Sie half uns beim
Gepäckeinladen und wir verließen Bozen. Der Himmel war jetzt leer über
Bozen. Ein leeres Blau, aus dem die Sonne mit ihrer ganzen Sommerwucht
auf die Stadt schien. Unsere Fahrerin hatte mit Erzählen angefangen.
Sie erzählte von der Geschichte ihres Landes als wir durch das Tal der
Eisack in Richtung Brixen fuhren. Zu der einen Seite konnten wir auf
den Fluss sehen. Auf der Flussseite und auch gegenüber waren Burgen,
Kastelle, Ansitze und Ortschaften an die Berghänge gepflanzt worden.
Sie erklärte uns die verschiedenen Burgen; auch die Trostburg, auf der
Walther von der Vogelweide gelebt hatte. Etwas später passierten wir
den Eingang zum Grödnertal und ihr Zeigefinger wies auf einen Ort –
eine Kirche, ein paar Häuser – in dem Oswald von Wolkenstein zuhause
gewesen war. Eine weniger breite Straße verließ jetzt die Hauptstraße
und das Tal und kletterte seitlich den Berg hinauf. Unsere Augen
tasteten die Wiesen empor bis uns die Sonne blendete, und über die
Wiesen zurück in Tal, wo der Fluss eine Schlangenlinie machte, und über
die Wiesen und grünen und braunen Bergrücken bis ganz weit zum
Horizont, wo die bleichen Berge unter dem blauen Himmel standen. Das
waren die Dolomiten. Gipfel, die in Urzeiten vom Meer umspült waren.
Von dem Meer, in dem kleine Tierchen schwammen, die zu Korallen wurden,
bis daraus Riffe entstanden, die durch gewaltige Kräfte
zusammengedrückt, gefaltet und aufgetürmt schließlich aus dem Wasser
aufstiegen. In dem Ort namens Barbian machten wir Halt und verstauten
unser Gepäck in einem Geländewagen. Wir waren guter Stimmung und es war
uns etwas abenteuerlich zumute, als wir einstiegen. Am Ortsausgang bog
unsere Fahrerin in einen Kastanienwald, durch den ein unbefestigter Weg
führte. Als wir so durch den Wald schaukelten, dann an frisch gemähten
Almwiesen mit von der Sonne gebleichten Holzgattern vorbei, über
Wurzeln und Wasserrinnen, die jetzt trocken waren, sprach sie von dem
Kastanienwald und den Kastanien. Von den Barbian-Kastanien, die
Eigentum der Bauern seien, die sie auf dem Obstmarkt in Bozen
verkauften, und die kein Fremder sammeln dürfe. Sie sprach davon, wie
von etwas ganz Bedeutendem. Etwas ganz Seltenem. Wie von Gold oder
Diamanten.
So schaukelten wir durch den Wald und schwiegen dabei. Wo wir aus dem
Wald herauskamen, war der Gasthof zu sehen. Der Fahrweg führte in einem
ausladenden Bogen auf das Haus zu. Wir kamen an und entluden unser
Gepäck. Hier oben war es angenehm. Ein leichter Wind war zu spüren. Ein
paar Leute sahen uns beim Ankommen zu. Mit Frau Torrgler verabredeten
wir eine Vorbestellung: 13. September, 10 Uhr, Transport nach Brixen
und zum Bahnhof. Wir sahen sie noch mit samt Wagen im Wald
verschwinden.
Der Gasthof Bad Dreikirchen besteht zu großen Teilen aus Holz. Auf den
Zimmern liegen Anweisungen, die besagen, wie man sich bei Feuer zu
verhalten hat. Rauchen auf den Zimmern ist verboten. Wir waren zur
Mittagszeit angekommen und suchten uns auf der großen Veranda einen
Platz. An den kleinen Tischen mit den rosafarbenen, sauberen
Tischtüchern saßen schon reichlich Gäste. Unterhalb der Veranda war ein
Bauerngarten, in dem mannshohe Sonnenblumen standen und ins Tal
blickten. Danach kam eine große Wiese, die steil abfiel, von einem
staubigen Fahrweg geteilt wurde und danach noch steiler dem Waldrand zu
abfiel. Von unserem Platz aus sahen wir die gegenüberliegenden,
bewaldeten Berge. Wo kein Wald war, waren Almen und es gab versprengte
Höfe und Ortschaften, die
um Kirchen herum versammelt standen. Aus der großen Entfernung war
keine Bewegung auszumachen.
Wir saßen vor unserem Rotwein und tranken und redeten bis das Essen
aufgetischt wurde. Wir waren glücklich mit dem, was wir bestellt
hatten: Hauswurst mit Kraut, Spinat-Lasagne, grüner Salat und ein Korb
mit verschiedenen Brotsorten. Wir hatten uns auf unser Zimmer
zurückgezogen. Das Zimmer war groß und roch sehr gut nach Holz. Eine
verglaste Tür führte auf die Veranda, die auch aus Holz gebaut war. Die
Veranda war mindestens ebenso groß wie unser Zimmer. Ich Schritt sie in
Breite und Tiefe ab und schätzte sie auf dreißig Quadratmeter und jeder
Schritt war ein hohles Klopfen. Es gab einen runden Tisch, der nicht
mehr als eine Holzplatte auf einem schmiedeeisernen Unterbau war, zwei
Stühle. Die Stühle waren alt und wieder aufgemöbelt worden. Außerdem
gab es noch einen mit weißem, grobem Baumwollstoff bezogenen Diwan. Wir
ließen uns auf das einladende Möbel sinken und sahen in den Himmel, der
jetzt fast ganz bedeckt war und die Wolken waren von den Berggipfeln
kaum zu trennen. Wir lagen bequem und bald schliefen wir ein.
Am späten Nachmittag versuchte ich mich in dem großen Haus
zurechtzufinden. Von der Veranda aus gelangte ich durch einen kurzen
Verbindungsgang in den Schankraum. Von dort aus führten Ausgänge in die
Küche, in eine Gaststube, in der drei kleine Tische standen, in die
Diele – ein großer niedrieger Raum, von dem vier Türen abgingen – und
in den großen Gastraum, der vollkommen holzvertäfelt war. Die eine
Schmalseite des Raumes hatte große Fenster und eine doppelflügelige
verglaste Tür, die zur Veranda führte. Auf der gegenüberliegenden Seite
gab es ebensolche Fenster und Türen, die verglast waren. Dahinter war
das Klappern von Töpfen und Geschirr zu vernehmen. Zu sehen war nichts.
Der Durchblick war hier mit buttergelben Vorhängen verdeckt worden. Ich
folgte dem buttergelben Licht, das wie Sonne in den Raum strahlte und
einen breiten goldenen Widerschein auf den gedielten Fußboden warf. Vom
Speiseraum gingen zwei Türen ab. Hinter der einen war ein Raum, in der
sich ein schwerer Flügel breitmachte. Ich sah ein Sofa, mehrere Sessel,
tiefe Tische davor und eine Eckbank aus Holz. An den frischgekälkten
Wänden hingen Ölbilder. Ein großes über dem Sofa zeigte ein
verschneites Dorf im Winter. In einem Steinkrug beim Fenster standen
rote Rosen auf einem Tisch. Der andere Raum war ganz anders. Es gab
wenig Licht, ein paar Sessel mit abgewetztem Stoff, auch einen
Sekretär, altmodische Stehlampen und kleine wacklige Tischchen; und es
gab eine Bücherwand mit einer Trittleiter davor. Es war ein Ort, an dem
es nach Geschichten roch. Ein Raum mit vielen Büchern. Eine Lesehöhle!
Ich fragte mich, ob hier vielleicht die Seele des Hauses wohnte. Ich
blieb eine Weile, um etwas davon nachzuspüren.
Ich forschte weiter und fand auch das älteste Zimmer im Haus. Ich war
durch einen langen, dunklen Flur bis zum Ende gegangen. Solange, bis es
mir fast zu dunkel geworden war. Dann war die Erleuchtung beim Öffnen
der Tür gekommen: Die reine Freundlichkeit strahlte mir entgegen. Das
Zimmer, in dem ich mich jetzt befand, war vollkommen in südliches Licht
getaucht. Nur Licht. Wände und Decke waren weiß getüncht. Nur um die
Deckenlampe herum erkannte ich noch gemalte Blumenmuster, die langsam
verblassten. Es hatte Südlage und an zwei Seiten Fenster und eine Tür
zum Balkon. Es war ein sehr schmaler, sehr langer Balkon, von dem es
auf die ankommenden und abreisenden Leute herabsehen konnte. Am
folgenden Tag wollte ich mich an die Arbeit machen. Ich wollte hier
mein Buch zu Ende bringen. Beim Frühstück saßen wir im Freien und
betrachteten die Wolken. Die Wolken lagen tief und sie würden sich nur
allmählich aus den Tälern erheben, an den Bergspitzen festwachsen
wollen, bis sie sich weiter höben und irgendwann im Sonnenschein
auflösen würden. Ich behielt meinen Pulli an. Ich war nicht ganz auf
der Höhe und fühlte mich schlecht und wir beschlossen, dass mir eine
leichte Wanderung gut tun würde – Sollte die Arbeit doch warten. Der
Weg führte aufwärts durch Fichtenwald und an kleinen Sturzbächen
vorbei. Zögernd gaben die Wolken den Blick auf die Berge frei. Bald
konnten wir die Dolomitenspitzen sehen, die hinter den davorliegenden
Bergen herausragten. Wir waren jetzt in einer Welt mit weitem Blick.
Der Himmel war ein glattes blaues Tuch. Da war nichts, was den Blick
verstellte. Vor uns die Ewigkeit der Berge. Über uns die Endlosigkeit
des Himmels. Man konnte sehen, so weit man wollte. Und an irgendeinem
Punkt fing man an, sich in sich selbst umzuschauen. Und auch da war
nichts, was den Blick verstellte und wahrscheinlich fühlte ich mich
deshalb nicht ganz wohl. Wir kamen wieder in Bewegung und wieder in den
Wald. Der Boden war ja gut zu gehen, aber der Weg war steil und immer
wieder mussten wir nach wenigen Metern atemlos und mit pochenden Herzen
stehen bleiben. Nach Windungen und Gehpausen kamen wir schließlich an
einer besonnten Wiese an, die frisch gemäht war und süß und irgendwie
nach Kindheit roch. Hier waren wir auf der Höhe des Weges angekommen.
Von einer Bank aus betrachteten wir das Bild: Etwas unterhalb von uns
gab es eine Sennhütte, an der klares Bergwasser vorbei in eine
natürliche Wanne lief. In dem glasklaren Wasser gab es Forellen. Gegen
den hellen Grund der Wanne sahen ihre Körper dunkel aus. Wir zählten
drei oder vier und dachten, dass sie eine prima Mahlzeit abgeben
würden, dass wir sie in Butter schwenken und mit den Händen von den
Gräten essen würden. Wieder beim Gasthof, waren wir müde. Wir zogen
Schuhe und Strümpfe aus und legten die Beine hoch. Den ganzen
Nachmittag waren wir faul. Ich beschloss die Arbeit an meinem Buch erst
morgen aufzunehmen, las in Hemingways Fiesta und ging dann doch noch
daran. Ich nahm mir die Notizen vor, die ich mir zu meinem Buch gemacht
hatte und begann damit, sie durchzuarbeiten.
Beim Abendessen planten wir für den nächsten Tag.
Nach dem Nachtisch zogen wir uns in das Flügelzimmer zurück. Wir lasen
und tranken den Wein leer und wurden bald schwer vom Wein, und spürten
die Steigungen, die uns in den Knochen steckten. Es war an der Zeit,
schlafen zu gehen. Am nächsten Tag lag die ganze Natur im Nebel. Wenn
die Sonne stark genug wäre, würde es ein schöner Tag. Wir packten den
Rucksack und füllten die Wasserflasche. Draußen war es kühl. Nach einem
halbstündigen, schweißtreibenden Anstieg wurden wir vom Regen
überrascht. Wir waren unterhalb von Briol unter Bäumen stehengeblieben
und dachten ans Umkehren. Andere Wanderer gesellten sich zu uns und
wollten sich vom Regen nicht am Weitergehen hindern lassen. Mir war
kalt; ich spürte wie ich auskühlte. Eine Zeitlang verbrachten wir mit
Warten. Der Regen hatte nachgelassen, als ich den Rucksack wieder
aufsetzte. Aber als wir weitergehen wollten, nahm der Regen wieder an
Stärke zu. Und als wir in Briol einkehrten, begann es erst recht aus
Eimern zu schütten. In der bis auf Kopfhöhe mit Holz verkleideten Stube
setzten wir uns an einen freien Tisch. Alle Tische hatten frische,
weiße Decken. Wir fanden den Kellner, der gerade den Küchenofen feuerte
und fragten nach heißem Tee. Er brachte zwei Kannen mit Lindenblütentee
und zwei Tassen. Er war freundlich; ein kleiner, breitschultriger Mann
mit bäuerlichem Gesicht, der italienisch und mit den Händen sprach.
Wir waren bald trocken, aber uns war immer noch kalt. Ich schaute mich
gerade in der Stube um, als sich die Tür öffnete und die Gruppe, die
uns eben vorausgegangen war, hereinplatzte. Es waren vier. Sie
schüttelten den Regen ab, stampften ein paar mal energisch mit den
schweren Schuhen auf dem Boden auf, grüßten, setzten sich in eine
andere Ecke und hinterließen nasse Flecken auf dem gescheuerten
Holzboden. Im selben Moment kam von nebenan auch die Wirtin in den Raum
und brachte mit ein paar Handgriffen einen Gasofen in Gang, der sofort
Wärme produzierte. Das Ofenmetall machte Geräusche, wie es sich unter
der zunehmenden Wärme ausdehnte. Die Wirtin war eine jugendliche, agile
Person. Ihre Haut hatte sich einen Bergsommer lang schokoladenbraun
gefärbt. Wir ließen uns sagen, was es zu Mittag gäbe und bestellten
zweimal
Flädlesuppe. Die Suppe kam und zusammen mit dem Ofen wurde uns jetzt
endlich warm.
Am Nachmittag hockten wir unter kleinen Lampen in der Bibliothek und
lasen und ich begann etwas in meinem Notizbuch zu schreiben. Draußen
änderte sich wieder der Himmel und es sah ganz schön aus. Die Sonne kam
hervor und verschwand wieder hinter Wolken. Das Wolkenbild veränderte
sich ständig und mal fiel das Licht auf die Waldhänge und mal auf die
Kuppen, die baumlos waren oder auf die graue Schroffheit der Dolomiten.
Das Sonnenlicht bewegte sich immer fort an eine andere Stelle und die
Wolken nahmen immer andere Formen und Farben an und ich besah mir das
Naturschauspiel bis die Sonne hinter den bleichen Bergen verschwunden
war.
Nachts glaubten wir uns der Zivilisation näher. Wir sahen ins Tal hinab
und konnten die vielen Lichter der Fahrzeuge sehen, die sich auf der
großen Straße bewegten. Eine dichte Kette von roten Lichtern in die
eine und eine ebenso dichte Kette von weißen Lichtern in die andere
Richtung. Ein gegenläufiger Strom nach Norden und nach Süden. Tagsüber
wurde das ferne Rauschen des Verkehrs vom Zirpen der Grashüpfer
überdeckt, nachts war es immer da, immer gleichförmig, und anders als
das Rauschen eines Flusses oder das Rauschen der Blätter in den Bäumen;
ein Rauschen von Menschen gemacht, monoton, wie das Rauschen eines
elektrischen Föhns. Neben der Straße gab es eine Eisenbahnlinie. Das
Rauschen war ähnlich, nur lauter und kürzer als eine Minute. So ein
Eisenbahnrauschen kam unregelmäßig, kam und verlor sich wieder, und
dann hörte man wieder die große Straße.
Die nächsten drei Tage waren sehr heiß gewesen und die Bauern hatten
begonnen, dass Heu zu wenden und schließlich aufzunehmen. Der Bauer
fuhr in einem Traktor und zog eine Maschine, die das Heu aufnahm.
Hinter der Maschine, die das Heu aufnahm, gingen zwei Helfer mit großen
Reschen und sammelten das liegen gebliebene Heu. Durch die Luft
wirbelte der Staub vom Heu und wir saßen auf der großen Veranda und
schnüffelten wie es nach Sommer roch.
Wieder am Abend sahen wir die Dolomiten und sie sahen jetzt rötlich aus
und in den Falten lagen tiefe, schwarze Schatten. Über dem Langkofel
stand eine weiße Wolke, die aussah wie von einem Indianerfeuer. Wir
saßen wieder in der Bibliothek und wenn wir hinaussahen, sahen wir
einen blassblauen Himmel mit zartrosa Wolken, schwarze niedriege Berge
vorn und rosafarbene hohe Berge dahinter. Die untergehende Sonne
zeichnete die Farben auf den Fels. Da wo kein Licht mehr war, war auch
keine Farbe.
Wir aßen eine Menge Abendessen und dazu tranken wir eine Flasche Vino
Nobile de Montepulciano, einen 95er, der sehr rot war im Glas. Danach
holte die Bedienung eine Flasche Schwarzgebrannten aus einem der
Wandschränke. „Barbian-Whisky”, sagte sie, als sie die Flasche auf den
Tisch stellte. Wir probierten und er schmeckte nach Alkohol und
Zwetschgen. Die Flasche, die sie nach dem Zweiten oder Dritten wieder
zurückstellte, war eine Ballantines-Flasche gewesen und war jetzt eine
Barbian-Whisky-Flasche. Barbian-Kastanien waren also nicht das einzig
Besondere an Barbian. Der Tag vor unserer Abreise war ein Sonntag. Aber
eigentlich waren auch alle Tage vorher Sonntage gewesen. Wir hatten auf
der Veranda in der Sonne gesessen und gefrühstückt. Nachher machten wir
einen Spaziergang. Als wir in den Wald gingen, wurde es kühl. Wir
hielten uns an den Händen und waren für den Augenblick glücklich mit
uns und der Welt. Wir kamen an eine Wiese und wie wir so gingen, hörten
wir plötzlich hinter uns das Hufschlagen herangaloppierender Pferde.
Der Boden dröhnte, als sie herankamen. Sie kamen schon in der nächsten
Sekunde aus dem Wald über eine Kuppe gerast und wir retteten uns mit
einem Sprung in die Wiese. Es waren drei: Zwei Halflinger und ein
Apfelschimmel. Die Reiter zügelten das Tempo, einer grüßte auf
italienisch und dann beschleunigten sie wieder und rasten davon.
Als wir am letzten Abend noch vor dem Essen in der Bibliothek saßen,
hörten wir im Speiseraum Stimmen und es wurde Besteck aufgelegt auf die
Holztische und Gläser klangen, die [...Nächste Seite]
Bücher. Bis zu dem Lokal, das wir aufsuchen wollten, war es nur ein
kurzes Stück die nasse Straße rauf und es roch noch immer nach Regen.
Durch die beleuchteten Fenster konnten wir nach drinnen sehen. Drinnen
in der Gaststube saßen ein paar Leute bei Lampenschein und als wir
eintraten kam der Wirt auf uns zu, ein Grauhaariger mit ebenso grauem
Oberlippenbart. Er streckte seine Hand aus und wies uns einen großen
Tisch an. Der Tisch sei reserviert, aber die Gäste würden erst später
kommen. Wir bestellten eine Flasche Lagrein dunkel und ein großes
Mineralwasser dazu. Wir entschieden uns für Leberknödelsuppe. Die Suppe
kam, schmeckte kräftig und heizte ein. Der Hauptgang – Bratkartoffel
mit Spiegelei – machte uns richtig satt. Von dem Salat, den es auch
gab, aßen wir nicht mehr alles auf.
Auf dem Rückweg: wieder Regen. Also kehrten wir noch irgendwo auf einen
Drink ein: Islay-Whisky, 12 Jahre alt, zwei Finger breit im Glas. Von
unserem Platz aus sahen wir den Regen in langen Fäden fallen. Später
wollten wir schnell ins Hotel kommen. Wir drückten uns an den
Hauswänden entlang, an den Bars vorbei, die ausgestorben waren, kamen
durch die Straße, wo sonst die schwarzen Nutten standen und sahen im
Vorübergehen in die öffentlichen Grünanlagen, die jetzt gar nichts mehr
Einladendes hatten. Über die Zebrastreifen traten wir nur auf die
weißen Streifen und sahen bestimmt ziemlich betrunken aus.
Vor unserem Hotel standen ein paar Italiener und rauchten.
Wir beeilten uns, in den vierten Stock zu kommen. Der Aufzug war alt
und das Holz aus dem er gebaut war knarrte beim Fahren. In der Enge des
Lifts roch es nach altem Teppich und beim Hochfahren wackelte er hin
und her wie
ein lockerer Zahn. Im Zimmer öffneten wir das Fenster. Unser Zimmer lag
ruhig zum Garten und nach hinten raus. Von unserem Bett aus sahen wir
tagsüber auf die Weinberge. Jetzt sahen wir nur ein paar verstreute
Lichter und die Umrisse einiger Häuser und die Lichter machten die
Nacht noch schwärzer. Manchmal hörten wir einen Wagen oder ein Motorrad
irgendwo die Bergstraße herauf oder herunter fahren oder vor einer
Kurve hupen. Man hupt hier vor Kurven. Entfernt rumpelte der Fahrstuhl.
Am dritten Morgen packten wir die Koffer. Das Taxi fuhr vor. Unser
Fahrer war eine Fahrerin. Sie hieße Torggler. Sie half uns beim
Gepäckeinladen und wir verließen Bozen. Der Himmel war jetzt leer über
Bozen. Ein leeres Blau, aus dem die Sonne mit ihrer ganzen Sommerwucht
auf die Stadt schien. Unsere Fahrerin hatte mit Erzählen angefangen.
Sie erzählte von der Geschichte ihres Landes als wir durch das Tal der
Eisack in Richtung Brixen fuhren. Zu der einen Seite konnten wir auf
den Fluss sehen. Auf der Flussseite und auch gegenüber waren Burgen,
Kastelle, Ansitze und Ortschaften an die Berghänge gepflanzt worden.
Sie erklärte uns die verschiedenen Burgen; auch die Trostburg, auf der
Walther von der Vogelweide gelebt hatte. Etwas später passierten wir
den Eingang zum Grödnertal und ihr Zeigefinger wies auf einen Ort –
eine Kirche, ein paar Häuser – in dem Oswald von Wolkenstein zuhause
gewesen war. Eine weniger breite Straße verließ jetzt die Hauptstraße
und das Tal und kletterte seitlich den Berg hinauf. Unsere Augen
tasteten die Wiesen empor bis uns die Sonne blendete, und über die
Wiesen zurück in Tal, wo der Fluss eine Schlangenlinie machte, und über
die Wiesen und grünen und braunen Bergrücken bis ganz weit zum
Horizont, wo die bleichen Berge unter dem blauen Himmel standen. Das
waren die Dolomiten. Gipfel, die in Urzeiten vom Meer umspült waren.
Von dem Meer, in dem kleine Tierchen schwammen, die zu Korallen wurden,
bis daraus Riffe entstanden, die durch gewaltige Kräfte
zusammengedrückt, gefaltet und aufgetürmt schließlich aus dem Wasser
aufstiegen. In dem Ort namens Barbian machten wir Halt und verstauten
unser Gepäck in einem Geländewagen. Wir waren guter Stimmung und es war
uns etwas abenteuerlich zumute, als wir einstiegen. Am Ortsausgang bog
unsere Fahrerin in einen Kastanienwald, durch den ein unbefestigter Weg
führte. Als wir so durch den Wald schaukelten, dann an frisch gemähten
Almwiesen mit von der Sonne gebleichten Holzgattern vorbei, über
Wurzeln und Wasserrinnen, die jetzt trocken waren, sprach sie von dem
Kastanienwald und den Kastanien. Von den Barbian-Kastanien, die
Eigentum der Bauern seien, die sie auf dem Obstmarkt in Bozen
verkauften, und die kein Fremder sammeln dürfe. Sie sprach davon, wie
von etwas ganz Bedeutendem. Etwas ganz Seltenem. Wie von Gold oder
Diamanten.
So schaukelten wir durch den Wald und schwiegen dabei. Wo wir aus dem
Wald herauskamen, war der Gasthof zu sehen. Der Fahrweg führte in einem
ausladenden Bogen auf das Haus zu. Wir kamen an und entluden unser
Gepäck. Hier oben war es angenehm. Ein leichter Wind war zu spüren. Ein
paar Leute sahen uns beim Ankommen zu. Mit Frau Torrgler verabredeten
wir eine Vorbestellung: 13. September, 10 Uhr, Transport nach Brixen
und zum Bahnhof. Wir sahen sie noch mit samt Wagen im Wald
verschwinden.
Der Gasthof Bad Dreikirchen besteht zu großen Teilen aus Holz. Auf den
Zimmern liegen Anweisungen, die besagen, wie man sich bei Feuer zu
verhalten hat. Rauchen auf den Zimmern ist verboten. Wir waren zur
Mittagszeit angekommen und suchten uns auf der großen Veranda einen
Platz. An den kleinen Tischen mit den rosafarbenen, sauberen
Tischtüchern saßen schon reichlich Gäste. Unterhalb der Veranda war ein
Bauerngarten, in dem mannshohe Sonnenblumen standen und ins Tal
blickten. Danach kam eine große Wiese, die steil abfiel, von einem
staubigen Fahrweg geteilt wurde und danach noch steiler dem Waldrand zu
abfiel. Von unserem Platz aus sahen wir die gegenüberliegenden,
bewaldeten Berge. Wo kein Wald war, waren Almen und es gab versprengte
Höfe und Ortschaften, die
um Kirchen herum versammelt standen. Aus der großen Entfernung war
keine Bewegung auszumachen.
Wir saßen vor unserem Rotwein und tranken und redeten bis das Essen
aufgetischt wurde. Wir waren glücklich mit dem, was wir bestellt
hatten: Hauswurst mit Kraut, Spinat-Lasagne, grüner Salat und ein Korb
mit verschiedenen Brotsorten. Wir hatten uns auf unser Zimmer
zurückgezogen. Das Zimmer war groß und roch sehr gut nach Holz. Eine
verglaste Tür führte auf die Veranda, die auch aus Holz gebaut war. Die
Veranda war mindestens ebenso groß wie unser Zimmer. Ich Schritt sie in
Breite und Tiefe ab und schätzte sie auf dreißig Quadratmeter und jeder
Schritt war ein hohles Klopfen. Es gab einen runden Tisch, der nicht
mehr als eine Holzplatte auf einem schmiedeeisernen Unterbau war, zwei
Stühle. Die Stühle waren alt und wieder aufgemöbelt worden. Außerdem
gab es noch einen mit weißem, grobem Baumwollstoff bezogenen Diwan. Wir
ließen uns auf das einladende Möbel sinken und sahen in den Himmel, der
jetzt fast ganz bedeckt war und die Wolken waren von den Berggipfeln
kaum zu trennen. Wir lagen bequem und bald schliefen wir ein.
Am späten Nachmittag versuchte ich mich in dem großen Haus
zurechtzufinden. Von der Veranda aus gelangte ich durch einen kurzen
Verbindungsgang in den Schankraum. Von dort aus führten Ausgänge in die
Küche, in eine Gaststube, in der drei kleine Tische standen, in die
Diele – ein großer niedrieger Raum, von dem vier Türen abgingen – und
in den großen Gastraum, der vollkommen holzvertäfelt war. Die eine
Schmalseite des Raumes hatte große Fenster und eine doppelflügelige
verglaste Tür, die zur Veranda führte. Auf der gegenüberliegenden Seite
gab es ebensolche Fenster und Türen, die verglast waren. Dahinter war
das Klappern von Töpfen und Geschirr zu vernehmen. Zu sehen war nichts.
Der Durchblick war hier mit buttergelben Vorhängen verdeckt worden. Ich
folgte dem buttergelben Licht, das wie Sonne in den Raum strahlte und
einen breiten goldenen Widerschein auf den gedielten Fußboden warf. Vom
Speiseraum gingen zwei Türen ab. Hinter der einen war ein Raum, in der
sich ein schwerer Flügel breitmachte. Ich sah ein Sofa, mehrere Sessel,
tiefe Tische davor und eine Eckbank aus Holz. An den frischgekälkten
Wänden hingen Ölbilder. Ein großes über dem Sofa zeigte ein
verschneites Dorf im Winter. In einem Steinkrug beim Fenster standen
rote Rosen auf einem Tisch. Der andere Raum war ganz anders. Es gab
wenig Licht, ein paar Sessel mit abgewetztem Stoff, auch einen
Sekretär, altmodische Stehlampen und kleine wacklige Tischchen; und es
gab eine Bücherwand mit einer Trittleiter davor. Es war ein Ort, an dem
es nach Geschichten roch. Ein Raum mit vielen Büchern. Eine Lesehöhle!
Ich fragte mich, ob hier vielleicht die Seele des Hauses wohnte. Ich
blieb eine Weile, um etwas davon nachzuspüren.
Ich forschte weiter und fand auch das älteste Zimmer im Haus. Ich war
durch einen langen, dunklen Flur bis zum Ende gegangen. Solange, bis es
mir fast zu dunkel geworden war. Dann war die Erleuchtung beim Öffnen
der Tür gekommen: Die reine Freundlichkeit strahlte mir entgegen. Das
Zimmer, in dem ich mich jetzt befand, war vollkommen in südliches Licht
getaucht. Nur Licht. Wände und Decke waren weiß getüncht. Nur um die
Deckenlampe herum erkannte ich noch gemalte Blumenmuster, die langsam
verblassten. Es hatte Südlage und an zwei Seiten Fenster und eine Tür
zum Balkon. Es war ein sehr schmaler, sehr langer Balkon, von dem es
auf die ankommenden und abreisenden Leute herabsehen konnte. Am
folgenden Tag wollte ich mich an die Arbeit machen. Ich wollte hier
mein Buch zu Ende bringen. Beim Frühstück saßen wir im Freien und
betrachteten die Wolken. Die Wolken lagen tief und sie würden sich nur
allmählich aus den Tälern erheben, an den Bergspitzen festwachsen
wollen, bis sie sich weiter höben und irgendwann im Sonnenschein
auflösen würden. Ich behielt meinen Pulli an. Ich war nicht ganz auf
der Höhe und fühlte mich schlecht und wir beschlossen, dass mir eine
leichte Wanderung gut tun würde – Sollte die Arbeit doch warten. Der
Weg führte aufwärts durch Fichtenwald und an kleinen Sturzbächen
vorbei. Zögernd gaben die Wolken den Blick auf die Berge frei. Bald
konnten wir die Dolomitenspitzen sehen, die hinter den davorliegenden
Bergen herausragten. Wir waren jetzt in einer Welt mit weitem Blick.
Der Himmel war ein glattes blaues Tuch. Da war nichts, was den Blick
verstellte. Vor uns die Ewigkeit der Berge. Über uns die Endlosigkeit
des Himmels. Man konnte sehen, so weit man wollte. Und an irgendeinem
Punkt fing man an, sich in sich selbst umzuschauen. Und auch da war
nichts, was den Blick verstellte und wahrscheinlich fühlte ich mich
deshalb nicht ganz wohl. Wir kamen wieder in Bewegung und wieder in den
Wald. Der Boden war ja gut zu gehen, aber der Weg war steil und immer
wieder mussten wir nach wenigen Metern atemlos und mit pochenden Herzen
stehen bleiben. Nach Windungen und Gehpausen kamen wir schließlich an
einer besonnten Wiese an, die frisch gemäht war und süß und irgendwie
nach Kindheit roch. Hier waren wir auf der Höhe des Weges angekommen.
Von einer Bank aus betrachteten wir das Bild: Etwas unterhalb von uns
gab es eine Sennhütte, an der klares Bergwasser vorbei in eine
natürliche Wanne lief. In dem glasklaren Wasser gab es Forellen. Gegen
den hellen Grund der Wanne sahen ihre Körper dunkel aus. Wir zählten
drei oder vier und dachten, dass sie eine prima Mahlzeit abgeben
würden, dass wir sie in Butter schwenken und mit den Händen von den
Gräten essen würden. Wieder beim Gasthof, waren wir müde. Wir zogen
Schuhe und Strümpfe aus und legten die Beine hoch. Den ganzen
Nachmittag waren wir faul. Ich beschloss die Arbeit an meinem Buch erst
morgen aufzunehmen, las in Hemingways Fiesta und ging dann doch noch
daran. Ich nahm mir die Notizen vor, die ich mir zu meinem Buch gemacht
hatte und begann damit, sie durchzuarbeiten.
Beim Abendessen planten wir für den nächsten Tag.
Nach dem Nachtisch zogen wir uns in das Flügelzimmer zurück. Wir lasen
und tranken den Wein leer und wurden bald schwer vom Wein, und spürten
die Steigungen, die uns in den Knochen steckten. Es war an der Zeit,
schlafen zu gehen. Am nächsten Tag lag die ganze Natur im Nebel. Wenn
die Sonne stark genug wäre, würde es ein schöner Tag. Wir packten den
Rucksack und füllten die Wasserflasche. Draußen war es kühl. Nach einem
halbstündigen, schweißtreibenden Anstieg wurden wir vom Regen
überrascht. Wir waren unterhalb von Briol unter Bäumen stehengeblieben
und dachten ans Umkehren. Andere Wanderer gesellten sich zu uns und
wollten sich vom Regen nicht am Weitergehen hindern lassen. Mir war
kalt; ich spürte wie ich auskühlte. Eine Zeitlang verbrachten wir mit
Warten. Der Regen hatte nachgelassen, als ich den Rucksack wieder
aufsetzte. Aber als wir weitergehen wollten, nahm der Regen wieder an
Stärke zu. Und als wir in Briol einkehrten, begann es erst recht aus
Eimern zu schütten. In der bis auf Kopfhöhe mit Holz verkleideten Stube
setzten wir uns an einen freien Tisch. Alle Tische hatten frische,
weiße Decken. Wir fanden den Kellner, der gerade den Küchenofen feuerte
und fragten nach heißem Tee. Er brachte zwei Kannen mit Lindenblütentee
und zwei Tassen. Er war freundlich; ein kleiner, breitschultriger Mann
mit bäuerlichem Gesicht, der italienisch und mit den Händen sprach.
Wir waren bald trocken, aber uns war immer noch kalt. Ich schaute mich
gerade in der Stube um, als sich die Tür öffnete und die Gruppe, die
uns eben vorausgegangen war, hereinplatzte. Es waren vier. Sie
schüttelten den Regen ab, stampften ein paar mal energisch mit den
schweren Schuhen auf dem Boden auf, grüßten, setzten sich in eine
andere Ecke und hinterließen nasse Flecken auf dem gescheuerten
Holzboden. Im selben Moment kam von nebenan auch die Wirtin in den Raum
und brachte mit ein paar Handgriffen einen Gasofen in Gang, der sofort
Wärme produzierte. Das Ofenmetall machte Geräusche, wie es sich unter
der zunehmenden Wärme ausdehnte. Die Wirtin war eine jugendliche, agile
Person. Ihre Haut hatte sich einen Bergsommer lang schokoladenbraun
gefärbt. Wir ließen uns sagen, was es zu Mittag gäbe und bestellten
zweimal
Flädlesuppe. Die Suppe kam und zusammen mit dem Ofen wurde uns jetzt
endlich warm.
Am Nachmittag hockten wir unter kleinen Lampen in der Bibliothek und
lasen und ich begann etwas in meinem Notizbuch zu schreiben. Draußen
änderte sich wieder der Himmel und es sah ganz schön aus. Die Sonne kam
hervor und verschwand wieder hinter Wolken. Das Wolkenbild veränderte
sich ständig und mal fiel das Licht auf die Waldhänge und mal auf die
Kuppen, die baumlos waren oder auf die graue Schroffheit der Dolomiten.
Das Sonnenlicht bewegte sich immer fort an eine andere Stelle und die
Wolken nahmen immer andere Formen und Farben an und ich besah mir das
Naturschauspiel bis die Sonne hinter den bleichen Bergen verschwunden
war.
Nachts glaubten wir uns der Zivilisation näher. Wir sahen ins Tal hinab
und konnten die vielen Lichter der Fahrzeuge sehen, die sich auf der
großen Straße bewegten. Eine dichte Kette von roten Lichtern in die
eine und eine ebenso dichte Kette von weißen Lichtern in die andere
Richtung. Ein gegenläufiger Strom nach Norden und nach Süden. Tagsüber
wurde das ferne Rauschen des Verkehrs vom Zirpen der Grashüpfer
überdeckt, nachts war es immer da, immer gleichförmig, und anders als
das Rauschen eines Flusses oder das Rauschen der Blätter in den Bäumen;
ein Rauschen von Menschen gemacht, monoton, wie das Rauschen eines
elektrischen Föhns. Neben der Straße gab es eine Eisenbahnlinie. Das
Rauschen war ähnlich, nur lauter und kürzer als eine Minute. So ein
Eisenbahnrauschen kam unregelmäßig, kam und verlor sich wieder, und
dann hörte man wieder die große Straße.
Die nächsten drei Tage waren sehr heiß gewesen und die Bauern hatten
begonnen, dass Heu zu wenden und schließlich aufzunehmen. Der Bauer
fuhr in einem Traktor und zog eine Maschine, die das Heu aufnahm.
Hinter der Maschine, die das Heu aufnahm, gingen zwei Helfer mit großen
Reschen und sammelten das liegen gebliebene Heu. Durch die Luft
wirbelte der Staub vom Heu und wir saßen auf der großen Veranda und
schnüffelten wie es nach Sommer roch.
Wieder am Abend sahen wir die Dolomiten und sie sahen jetzt rötlich aus
und in den Falten lagen tiefe, schwarze Schatten. Über dem Langkofel
stand eine weiße Wolke, die aussah wie von einem Indianerfeuer. Wir
saßen wieder in der Bibliothek und wenn wir hinaussahen, sahen wir
einen blassblauen Himmel mit zartrosa Wolken, schwarze niedriege Berge
vorn und rosafarbene hohe Berge dahinter. Die untergehende Sonne
zeichnete die Farben auf den Fels. Da wo kein Licht mehr war, war auch
keine Farbe.
Wir aßen eine Menge Abendessen und dazu tranken wir eine Flasche Vino
Nobile de Montepulciano, einen 95er, der sehr rot war im Glas. Danach
holte die Bedienung eine Flasche Schwarzgebrannten aus einem der
Wandschränke. „Barbian-Whisky”, sagte sie, als sie die Flasche auf den
Tisch stellte. Wir probierten und er schmeckte nach Alkohol und
Zwetschgen. Die Flasche, die sie nach dem Zweiten oder Dritten wieder
zurückstellte, war eine Ballantines-Flasche gewesen und war jetzt eine
Barbian-Whisky-Flasche. Barbian-Kastanien waren also nicht das einzig
Besondere an Barbian. Der Tag vor unserer Abreise war ein Sonntag. Aber
eigentlich waren auch alle Tage vorher Sonntage gewesen. Wir hatten auf
der Veranda in der Sonne gesessen und gefrühstückt. Nachher machten wir
einen Spaziergang. Als wir in den Wald gingen, wurde es kühl. Wir
hielten uns an den Händen und waren für den Augenblick glücklich mit
uns und der Welt. Wir kamen an eine Wiese und wie wir so gingen, hörten
wir plötzlich hinter uns das Hufschlagen herangaloppierender Pferde.
Der Boden dröhnte, als sie herankamen. Sie kamen schon in der nächsten
Sekunde aus dem Wald über eine Kuppe gerast und wir retteten uns mit
einem Sprung in die Wiese. Es waren drei: Zwei Halflinger und ein
Apfelschimmel. Die Reiter zügelten das Tempo, einer grüßte auf
italienisch und dann beschleunigten sie wieder und rasten davon.
Als wir am letzten Abend noch vor dem Essen in der Bibliothek saßen,
hörten wir im Speiseraum Stimmen und es wurde Besteck aufgelegt auf die
Holztische und Gläser klangen, die [...Nächste Seite]
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in Weite Welt
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