Donnerstag, 25. März 2010
Das wahnsinnige Rennen
Wer noch Arbeit hat, dem fällt in einem der wenigen stillen Momente auf, das ist alles der Wahnsinn. Morgens begrüßen einen 134 unbeantwortete Mails. 70% haben den Status besonders wichtig vom Absender verliehen bekommen. Am selben Tag erwarten einen 4 Meetings. Zudem muss noch die eigentliche Arbeit erledigt werden und einiges vorbereitet, überarbeitet und nachbereitet werden.
Auf dem Handy erblickt man 8 Anrufe in Abwesenheit. Zum Glück 6 anonym. Zwischendurch streckt jemand den Kopf zur Tür rein „Hast Du mal 2 Minuten Zeit?“. Eigentlich wollte man heute zeitig raus, mal mit den alten Herren kicken gehen. Oder mit dem Sohn ins Kino gehen. Oder mit der Frau. Aber eigentlich weiß man schon Morgens, dass man es Abends nicht schafft.
So kann man aber keinen Tag beginnen, in dem man denen, die man am liebsten hat, mit einer Absage begrüßt. Das wäre ein schlechter Einstand für den Tag. Somit lieber die Hoffnung keimen lassen, es könnte klappen.
Die Brille ist seit 2 Wochen kaputt, der Bügel fällt immer raus. Eigentlich müsste man dringend zum Optiker. Getränke müssten eingekauft werden und dann ruft auch noch ein Freund an. Jetzt ganz schlecht. Die Familie und die Freunde genießen tagsüber einen besonderen Status, die Unsichtbaren.
Plötzlich wieder Terminänderungen. Da fällt was aus. Da kommt gleich was rein. 211 unbeantwortete Mails. Das mache ich heute Abend, wenn alle im Bett sind. 22 Anrufe in Abwesenheit. Und ein paar wichtige Nummern darunter. Schnell abtelefonieren oder besser eine Mail schreiben.
Essen, ich wollte doch was essen. Ich habe doch eigentlich Hunger gehabt. Aber jetzt ist es schon zu spät, Essen fällt aus. Kaffee und Wasser müssen das bis heute Abend schaffen. Oh mein Gott, die Post, ich hatte die Postmappe ganz vergessen. Ist was dabei? Ich meine, was meine sofortige Aufmerksamkeit benötigt? Wann schreibe ich bloß die Präsentation? Wann habe ich mal 20 Minuten für mich, alles das zu erledigen, was ich früher in 8 Stunden mir ausdenken konnte?
Sogar das auf Toiltette gehen stört. Sogar dafür hat man nicht wirklich Zeit. Und dann die blöden Witze über Urlaub, Geld und Krankheit. Ständig geben einem alle das schlechte Gefühl, Krankheit wäre Absicht, um alle anderen zusätzlich zu belasten. Und mit dem Urlaub verhält es sich ähnlich. Dann tun sie immer so, als ob man Unsummen verdient und im Geld schwimmen würde. Blödsinn. Ach, ja Scheiße, die Steuernachzahlung.
Mist, geblitzt worden, nachts auf der dreispurigen leeren Autobahn, da stand 80 und ich wollte nur noch ins Bett und bin so 120 gefahren – Blitz – hatten sie mich. Nachts auf einer einsamen Autobahn. Das muss ich auch noch erledigen. Meine Frau ruft an wegen des Friseurtermins. Nächste Woche Dienstag um 12.00 Uhr – ja, ja, das bekomme ich schon hin. Und sie gibt mir die Planungen für das Wochenende durch. Mein Sohn hat ein Fußballturnier, 8:00 Uhr Treffen am Sportplatz.
Wann komme ich bloß dazu, die Präsentation zu schreiben? Ich mache das einfach am Sonntag. Sonntag muss ich einfach mal 2 Stunden für mich finden. Es ist schon wieder nach 18:00 Uhr. Fuck, mein Sohn ruft an. Wie ich das hasse.
Schon mal Mails löschen. Alles was cc ist, raus damit. Irgendwie habe ich den ganzen Tag etwas getan, aber nichts hat sich wirklich bewegt, nichts ging los, oder hörte auf. Nichts. Und vor mir wird alles immer mehr und immer schneller. Zu Hause habe ich jetzt auch schnelles Internet. Ich bin immer und überall erreichbar. Alles erreicht mich. Eigentlich müsste ich meinen Job machen. Aber es ist schon lange nicht mehr der Job, wo ich dachte, dass ich ihn erledigen muss.
Ich muss Politik zu allen Seiten machen. Ich muss clever sein. Vorausschauend. Mein Netzwerk pflegen. Immer im Augenwinkel beobachten, was um mich herum passiert. Gespräche führen. Loben. Kleine Gefälligkeiten. Aber auch mal dazwischen hauen. Im Prinzip habe ich eine wichtige Präsentation zu halten. Von der einiges wie immer abhängt. Aber ich komme nicht dazu. Das System lässt mich nicht dazukommen.
Time Management – dass ich nicht lache. Ich soll reduzieren, konzentrieren und nicht alles tolerieren. Weglassen, was nicht nötig ist. Nichts anpacken, was andere machen sollen. Ich muss mich einfach an das Gefühl gewöhnen, dass man die Arbeit nicht schafft. Dass man seinem Anspruch nicht gerecht wird. Dass man auf immer mehr verzichten muss. Das scheint der Normalzustand.
Ständig wundere ich mich darüber, was noch alles gelingt und klappt. Was man alles improvisiert und dann auch noch funktioniert. Ich glaube, der Weg im Business ist ein anderer, als alle gelernt haben. Alles hat sich längst überholt. Nichts von dem, was man an Werkzeugen mit auf den Weg bekommen hat, wendet man noch an.
Eigentlich sollten mich keine Mails erreichen. Und keine Anrufe. Dafür sollte es einen Service geben. Eine Filter aus echten Menschen. Man dürfte gar nicht mehr so an mich heran. Da draußen müssten Menschen die Dinge ausarbeiten, zu denen ich nicht mehr komme. Man müsste die ganze Technik anders nutzen und einsetzen. Und neue Jobs gestalten, die uns allen die Arbeit ermöglichen.
Und dass ich es geschafft hätte, mit meinem Sohn ins Kino zu kommen. Und auf dem Weg ein paar Blumen für meine Frau zu kaufen. In aller Ruhe 20 Minuten mit einem Freund zu telefonieren. Mich intensiv mit meinen wesentlichen und wichtigen Aufgaben zu beschäftigen. Dabei einen guten Kaffee trinken. Mittags gesund Essen zu gehen.
Eigentlich müsste alles anders sein, als es ist, um das zu erzielen, was wir uns vornehmen. Aber das Rennen geht weiter. Alle rennen. Immer schneller. Immer mehr. Keiner bleibt stehen und schreit laut: Stopp. Warum rennen wir eigentlich? Oder wie jemand mal erzählt, als der Jungbulle mit seinem Vater auf einem Hügel stand und da unten im Tal diese vielen schönen Kühe stehen sah. Und der Jungbulle freudig schrie: Vater, lass uns runter rennen und eine von ihnen ficken. Und der Vater entgegnete: Lass uns langsam herunter gehen und sie alle nehmen.
Warum rennen wir und schaffen so wenig? Wenn wir gehen und viel mehr erreichen könnten? Wir sind verrückt.
Bemerkung: Dieser Text ist keine Beschreibung meines Lebens. Sondern eine Beschreibung des Lebens von Menschen, die ich kenne. Das soll keine Ausrede sein, sondern ich wollte die Chance wahrnehmen, es mal öffentlich darzustellen.