Du bist in Vergessenheit geraten. Du
klingst so altmodisch. Dabei bist du
so wesentlich. Man begreift dich nicht,
sondern sieht dich nur in all denen,
die ein vermeintlich leichteres Los
im Leben gezogen haben, als man selbst.
Was für ein Irrtum, das eigene Privileg des
Lebens zu übersehen. Dass man ist.
Und das auch noch zu der Zeit, an dem Ort.
Wie viele haben dieses Privileg nicht
nutzen können. Sind zur falschen Zeit,
am falschen Ort geboren. Oder zur jetzigen,
aber auch am falschen Ort.
Deren Jammern kann ich nicht vernehmen.
Das Jammern um mich herum ist nicht mehr
mit anzuhören. Sie übersehen dich. Deinen
unschätzbaren Wert. Alle, was ist, ist ein
Privileg, das man wie einen Schatz behüten
muss. Das man pflegen, beschützen und weiter-
geben muss. Das Glück, die Gesundheit, die
Freiheit, alles Privilegien, die nur ganz
wenigen zuteil werden.
Und viele glauben, das wirklich verdient zu
haben. Womit? Sie hatten nur Glück. Und
so nackt und mittellos sie gekommen sind,
ebenso werden sie das Leben verlassen.
Verdient? Haben andere den Hunger, das Elend
verdient? Die Gewalt, den Tod, die Krank-
heit, hat man sich das alles redlich verdient?
Den Namen, den man trägt, was hat man für
diesen geleistet? Verdienen muss man sich
etwas im Leben. Verdienen kann man sich
Respekt, Liebe, Freundschaft, Ehrlichkeit,
Vertrauen. Das Menschen von einem nur Gutes
zu berichten haben. Das kann man sich verdienen.
Dafür ist uns das Privileg des Lebens bereit-
gestellt worden. Verdient haben sich viele nichts.
Was für eine Fehleinschätzung. Anstatt sich
über das Privileg zu freuen und zu versuchen,
ihm auf einem Lebensweg gerecht zu werden,
verfallen viele nur in die Selbstgerechtigkeit.
Das Leben ist kein Verdienst, es ist ein
Geschenk. Also hat das Leben es verdient, dass
man mit ihm umgeht als das, was es wirklich
ist – das Privileg.
19. Oktober 2004